Stomachion

 

 

 

Leibniz und das I-Ging-Orakel

Die Erfindung des binären Zahlensystems, auf dem die Computertechnologie basiert, wird dem Mathematiker und Philosophen der frühen Aufklärung Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zugeschrieben, obwohl schon zuvor einige Mathematiker des 17. Jahrhunderts mit binären Zahlen experimentierten, die aber Leibniz wahrscheinlich nicht bekannt waren. Es ging ihm von vornherein nicht um die praktische Anwendung im Alltagsleben. Er wollte mit seinen Darlegungen zeigen, dass die Verwendung des Binärsystems in zahlentheo-retischen Überlegungen von Nutzen sein könnte, weil sich in der Binärnotation von Zahlen besonders einfach perodische Muster finden lassen. Erst aus dem unveröffentlichten Nachlass wissen wir, daß auch der erste Entwurf einer mit dem Binärsystem arbeitenden Rechenmaschine auf Leibniz zurückgeht.

Die Pariser Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied Leibniz war, zeigte aber erst Interesse an Leibniz Darlegungen zum Binärsystem, nachdem der in Peking lebende jesuitische Missionar Joachim Bouvet Leibniz auf das chinesische „I-Ging-Orakel“ aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert hingewiesen hatte. Im I-Ging werden 64 Hexagramme von durchgezogenen und gebrochenen Linien mit einer Bedeutung versehen, aus denen ein Orakelspruch für die eigene augenblickliche Situation abgeleitet werden kann. Zwischen den durchgezogenen und den gebrochenen Linien einerseits und der Binärdarstellung 0 und 1 andererseits besteht eine rein formale Analogie. Daraus leitete Bouvet die Behauptung ab, das binäre System sei schon den alten Chinesen bekannt gewesen. Mit dieser Interpretation werden Leibniz’ Überlegungen zum Binärsystem zum mathematischen Vorläufer der im 18. Jahrhundert verbreiteten Mode der Chinoiserien. Der Begriff Chinoiserie umfasst im weitesten Sinne Gestaltungsformen in Kunst, Kunsthandwerk und Architektur, die von chinesischer Kunst inspiriert sind.

 

 


Links: Die 64 Hexagramme des I-Ging

ASCII-I-Ging: Trinkhalme auf Kappa-Leichtstoffplatte (70 x 70 cm). Jedem I-Ging-Hexagramm ist ein Zeichen des in Computern verwendeten ASCII-Codes zugeordnet. Um alle Hexagramme in der Darstellung zu berücksichtigen, setzt sich das Bild aus drei Pangrammen (Satz der alle Buchstaben des Alphabets enthält) zusammen: „Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern. /-/ BEI JEDEM KLUGEN WORT VON SOKRATES RIEF XANTHIPPE ZYNISCH: QUATSCH. /-/ Vom Ödipuskomplex maßlos qequält übt Wilfried zyklisches Jodeln. /-/ Ralf Cronauer, 2020“.